Seesterne
"Sei der Mensch, für den
dein Hund dich hält."
"Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt." Mahatma Gandhi
Die Geschichte vom Seestern
Ein alter Mann geht bei Sonnenuntergang den Strand entlang. Er beobachtet vor sich einen Jungen, der Seesterne aufhebt und ins Meer wirft. Er holt ihn schließlich ein und fragt ihn, warum er das denn tue. Der Junge antwortet, dass die gestrandeten Seesterne sterben, wenn sie bis Sonnenaufgang hier liegen bleiben. „Aber der Strand ist kilometerlang und tausende Seesterne liegen hier. Was macht es also für einen Unterschied, wenn Du Dich abmühst?“, sagt der alte Mann. Der Junge blickt auf den Seestern in seiner Hand und wirft ihn in die rettenden Wellen. Er schaut den alten Mann an und sagt: „Für diesen hier macht es einen Unterschied.“
William Ashburne
Es war November 2019 als Daniel* und ich uns kennengelernt haben. Er war damals 26 Jahre alt. Daniel saß auf dem eisigen Boden der Dortmunder Innenstadt und fragte Passanten nach Geld. Irgendetwas in mir ließ mich zurückgehen und ihn fragen warum er dort sitzt. Er war mit 21 Jahren von zuhause rausgeflogen. Wir kamen ins Gespräch. Es war kalt und ich fragte, ob wir unser Gespräch nicht im Warmen bei einem Kaffee fortsetzen wollen. "Wollen schon, aber ich habe keine Zeit. Ich muss noch 7 € zusammenbekommen.", war seine Antwort. Ich verstand erst nicht.
Daniel lebte früher bei seinen Eltern nahe der holländischen Grenze. Bis eine Beratungsstelle seinen Eltern empfahl, ihn als Lektion vor die Tür zu setzen. Daniel lebte von da an zunächst bei Freunden, begleitet von der Hoffnung nach hause zurückkehren zu dürfen. Leider vergeblich. So kam er in verschiedenen Notunterkünften für Jugendliche unter. Doch mit seinen 21 Jahren war er hierfür zu alt. Ein Obdachlosenheim kam nicht infrage. Daniel hat zwar einen Hauptschulabschluss und eine Ausbildung, wusste aber nicht wo er anfangen sollte. Kein Zuhause, kein Rückhalt und keine Postadresse mehr. Ohne diese ist es in Deutschland nicht möglich, Sozialleistungen zu beantragen. Wie sollte er überleben? Ich hätte mit 21 Jahren wohl ebenso hilflos dagestanden. Die Straße wurde sein zuhause. Er lebte in verschiedenen Städten bis er schließlich nach Dortmund kam. Von anderen Jugendlichen in der gleichen Lage lernte er wie man auf der Straße zurechtkommt. Nachts hielten sie abwechselnd Wache, um auf ihr Hab und Gut aufzupassen –als Obdachloser wird man häufig beklaut. Also wach bleiben. Der regelmäßige Griff zu Drogen war die Folge und Betteln an der Tagesordnung. Nüchtern brachte er das nicht über sich, in der Fußgängerzone auf dem Boden sitzend, Menschen nach Geld zu fragen. "Trink vorher ein Bier, das macht es einfacher." Drogen und Alkohol wurden Bestandteil eines jeden Tages.
Heute lebt Daniel in seinen eigenen vier Wänden. Er hat mit der Zeit herausgefunden wie man auch ohne Wohnsitz zu einer Postadresse kommt, um sich beim Jobcenter zu melden und Hilfe zu beantragen. Doch die Zeit, um zu lernen wie das System funktioniert, war auch eine Zeit, in der aus der Gewohnheit, Alkohol zu trinken, eine Sucht wurde. Vor allem aber bestimmte Heroin inzwischen seinen Tagesablauf. Er erbettelte sich das Geld für Heroin jeden Tag aufs Neue, um bis zum nächsten Morgen "sicher und versorgt" zu sein. Dieses Geld zusammenzubekommen bestimmte jede Minute seines Lebens, um bloß nicht entzügig zu werden – seine größte Angst. Er hat mehrmals versucht, zu entziehen. Vor einem neuen Versuch hatte er panische Angst und niemandem, der ein Ohr für ihn hatte.
Ich begann in dieser Zeit meine Ausbildungen zum Coach und zur psychologischen Beraterin. Eine Aufgabe innerhalb der Ausbildung war es, einen Coachingfall zu dokumentieren. Ich wählte Daniel. Wir trafen uns seit einiger Zeit regelmäßig. Es war wunderbar zu sehen wie viel Mut er in dieser Zeit entwickelte.
Dann kam der Tag, an dem ich meinen Fall bei meiner Ausbildung zur psychologischen Beraterin vorstellte. Doch ich wurde nach den ersten Sätzen unterbrochen. Das sei kein Coachingfall. Menschen mit Drogenproblemen seien nicht geeignet. Zudem sei ich kein Suchtberater. Ich antwortete, dass ich auch keiner sein wollte, aber dass Daniel ein Mensch wie jeder andere ist und genauso mentale Unterstützung verdient hat wie jeder andere. Ich stieß auf taube Ohren. Mir wurde der Austausch verweigert und zum Abschluss unterstellt, dass ich ein Problem hätte und mir lieber suchen solle. Als sei Menschlichkeit eine Krankheit, die behandelt gehört. Mir wurde geraten, Daniel nicht weiter mental zu unterstützen.
Ich bin der Meinung niemandem sollte die Möglichkeit vorenthalten bleiben, über seine Ängste und Sorgen zu sprechen und an ihnen zu arbeiten. Vielleicht geht es dir ähnlich. Dann lassen Sie uns sprechen!
*Name geändert
Sei der Mensch, für den dein Hund dich hält.